Verblendungszusammenhang gegen politischen Aktivismus?  Spannung zwischen Theorie und Praxis anhand Michael Heinrichs Ansatz zur Interpretation des Kapitals

Verblendungszusammenhang gegen politischen Aktivismus?

 

Spannung zwischen Theorie und Praxis anhand Michael Heinrichs Ansatz zur Interpretation des Kapitals

In seiner Antwort an Ernst Michael Lange behauptet Michael Heinrich, dass „die Diagnose des „Warenfetischismus » im Kapital keineswegs als Kritik an einer verkehrten Vergesellschaftung […], sondern als Kritik einer verkehrten Auffassung der vorliegenden Vergesellschaftung“[1] auftritt. Er gibt sich dabei der Kritik der Essentialisten, Antideterministen, und der Normativisten hin, der Verteidiger der „Empörung“ – verstanden als normatives und moralisches Gefühl, das zum politischen Aktivismus treibt. Daher ist es notwendig zu bestimmen, inwiefern Marx weder eine Trennung zwischen Weltveränderung und theorerischer Analyse des kapitalistischen Produktionsmodus operiert, noch die erste für die letzte voraussetzt. In dem Kontext einer erneuerten Bewegung der marxistischen Lesezirkel gewinnt dieser scheinbar rein hermeneutische Expertenkonflikt doch eine praktische Dimension, deren Implikationen weit über das Kapital selbst hinausführen.

In der Tat kritisieren die Vertreter einer eher klassischen Lesart von Marx an Michael Heinrichs Interpretation des Kapitals, dass in seiner Konzeptualisierung der Mensch nicht mehr als Akteur zu verstehen ist. Daher erschöpfe sich die Konflikthaftigkeit im Abstrakten und konkrete Auseinandersetzungen in Form des Klassenkampfes hätten keinen Platz mehr, weil eben alle gleichermaßen der Verblendung durch den Warenfetisch unterlägen. Karl Reitter zufolge überinterpretiere Heinrich damit die Marxsche Formel vom Kapital als automatischem Subjekt. Indirekt leiste Heinrich „dem Gerede vom Verblendungszusammenhang, hinter dessen düsterem Vorhang alle Klassengegensätze irrelevant werden, leider einen gewissen Vorschub“.[2]

Insofern wäre eine Analyse des Kapitals, die die Intentionen der Teilnehmer nicht einbringt, eine Ablehnung des Klassenkampfes, als ob die Folge davon wäre,  „dass an den Agenten des Kapitals und ihrem Ausbeutungsgeschäft unter den gegebenen Eigentums- und Tauschverhältnissen eigentlich nichts zu kritisieren ist: Was sie treiben, ist nach den Regeln des Warentauschs absolut korrekt“.[3] Die heftige Debatte, die darauf folgt, bedarf unsere Aufmerksamkeit als politische Aktivisten und als theoretische Forscher. Notwendig ist es, auf verschiedene Ebene die Voraussetzungen und Implikationen dieser Debatte zu hinterfragen: auf einer historisch-theoretischen Ebene, auf eine textbezogene Weise, und auf einer praktischen Ebene.

Die Behauptung von Michael Heinrich lässt sich ebenso im Rahmen der Geschichte des Marxismus selbst verstehen, angesichts z.B. von Böhm-Bawerk, Lenin, Althusser oder Habermas. Eine Einschreibung in diesem theoretisch-historischen Zusammenhang wird daher notwendig, um zu begreifen, inwiefern Michael Heinrich auf einen „rohen Marxismus“ oder auf bestimmten Autoren antwortet.[4] Die Bestimmung der Gesprächspartner ist eine Voraussetzung, um die Natur der Kritik zu fassen und die Ebene der Argumentation nicht zu verwechseln.

Die Frage nach dem Verhältnis von Verblendungszusammenhang und automatischen Agenten ist die nach der revolutionären Praxis. Sie bedarf im Voraus eine Verteidigung durch den Text des Kapitals selbst. Aber nicht nur, weil das scheinbar kausale Verhältnis, das zwischen einer Behauptung des Verblendungszusammenhanges und politischem Aktivismus herrschen würde, noch auf eine andere Weise zu hinterfragen ist. Zugleich beruht das Postulat, demzufolge das Verständnis der Kapitalprozesse unabdingbar zu Weltveränderungsaspiration führt darauf, dass die „Idee der Weltveränderung“ nicht die Grundlage der marxistischen Theorie sei. Diese These muss auch die Tatsache nicht leugnen, dass Teilnehmer von „Kapital“-Lesegruppen doch schon selbst zumeist diese Idee der Weltveränderung voraussetzen.

Michael Heinrichs Interpretation des Kapitals schreibt sich in ein ganzes kohärentes System der Wissenschaftlichkeit ein, was zugleich dazu führt, dass man sowohl Essentialismus als auch Normativität nicht mehr als Waffen im Klassenkampf annehmen kann. Die Berücksichtigung dieser Tatsache angesichts der Frage nach dem Verhältnis von Theorie und verändernder Praxis, und nach den Subjekten der Transformation oder Revolution ist eine unvermeidbare Aufgabe des aktuellen politischen Aktivismus und wird Gegenstand des hier beschriebenen Vortrags.

 

[1] Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert, S. 373

[2] Karl Reitter, Kapitalismus ohne Klassenkampf? zu Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie. In: Grundrisse. 11, Herbst 2004, S. 26–34.

[3] Wie man „Das Kapital“ nicht schon wieder neu lesen sollte. In: GegenStandpunkt. 2/08

[4]In der Tat wiederholt der Autor, dass er unter Marxismus folgendes versteht:  „What I’m talking about are those philosophical simplifications that are presented as “Marxism,” those mixtures of simple materialism, bourgeois ideas of progress, and vulgar Hegelianism which are presented as “dialectical materialism” and “historical materialism”“,  in Je ne suis pas marxiste, Michael Heinrich, in Neues Deutschland, 24.01.2015.

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