Abstrakte Arbeit
Michael Heinrich
in: W.F.Haug (Hrsg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 1, Hamburg 1994
Aus: http://www.oekonomiekritik.de/203AbstrakteArbeit.htm
Marx benutzt den Begriff aA beiläufig in den Ms 44 (MEGA I.2, 208) zur Charakterisierung entfremdeter, vereinseitigter Arbeit, womit er an Hegels Verwendung von aA in Zusammenhang mit der Teilung der Arbeit anknüpft (Rechtsphil. § 198, Enzykl. §§ 525,526). In einer neuen Bedeutung wird aA 1859 in Zur Kritik zu einem zentralen Begriff. Marx unterscheidet hier erstmals die Gebrauchswert hervorbringende von der Tauschwert schaffenden Arbeit. Weil letztere « gleichgültig gegen den besondern Stoff der Gebrauchswerthe » ist, ist sie auch « gleichgültig gegen die besondere Form der Arbeit » und wird von Marx deshalb als « abstrakt allgemeine Arbeit » bezeichnet (MEGA II.2, 109). In Zur Kritik wird aA noch weitgehend mit « einfacher » Arbeit identifiziert: « Diese Abstraktion der allgemein menschlichen Arbeit existirt in der Durchschnittsarbeit, die jedes Durchschnitts-Individuum einer gegebnen Gesellschaft verrichten kann… Es ist einfache Arbeit, wozu jedes Durchschnitts-Individuum abgerichtet werden kann… Die einfache Arbeit bildet die bei weitem größte Masse aller Arbeit der bürgerlichen Gesellschaft… » (MEGA II.2, 110) Marx knüpft damit an die Argumentation aus dem Elend der Philosophie an, daß einfache Arbeit Wertmaß sei und daß dies ein von der modernen Industrie hervorgebrachtes Resultat sei (MEW 4, 85). Allerdings hatte Marx dort noch nicht zwischen abstrakter und konkreter Arbeit unterschieden. Mit der Identifizierung von aA und einfacher Arbeit werden jetzt zwei ganz verschiedene Prozesse gleichgesetzt: der im mechanisierten Produktionsprozeß stattfindende Verlust von qualifizierter Arbeit, also einer historischen Veränderung auf der Seite der konkreten Arbeit und die im Austausch stattfindende Abstraktion von den tatsächlich vorhandenen unterschiedlichen Qualitäten der verschiedenen konkreten Arbeiten. In der 1. Aufl. des Kapital stellt Marx dann zwar heraus, daß der Doppelcharakter der Arbeit der « Springpunkt » sei, « um den sich das Verständniß der politischen Oekonomie dreht » (MEGA II.5, 22). Aber erst in der 2. Aufl. wird aA von einfacher Arbeit streng unterschieden. Erst jetzt verwendet Marx den Begriff aA bereits zu Beginn des ersten Kapitels. So heißt es z. B. nicht mehr, ein Gebrauchswert hat Wert, « weil Arbeit in ihm vergegenständlicht » (MEGA II.5, 20), sondern « weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht » ist (MEGA II.6, 72).
Kritischer Gehalt des Begriffs — An der klassischen politischen Ökonomie kritisiert Marx, daß sie « nirgendwo ausdrücklich und mit klarem Bewußtsein Arbeit, die sich in Werth, von derselben Arbeit, soweit sie sich im Gebrauchswerth ihres Produkts darstellt », unterschieden habe. « Sie macht natürlich den Unterschied thatsächlich, da sie die Arbeit das einemal quantitativ, das andremal qualitativ betrachtet. Aber es fällt ihr nicht ein, daß bloß quantitativer Unterschied der Arbeiten ihre qualitative Einheit oder Gleichheit voraussetzt, also ihre Reduktion auf abstrakt menschliche Arbeit. » (MEGA II.5, 48). Der kritische Gehalt des Begriffs aA erschöpft sich aber nicht darin, daß Marx die Arbeitswerttheorie der Klassik lediglich präzisiert, indem er eine dort nicht getroffene Unterscheidung nachholt. Diese Unterscheidung ist auch für zentrale Bereiche der folgenden Darstellung (wie etwa der Wertformanalyse) von wesentlicher Bedeutung. Mit aA faßt Marx nämlich den spezifisch gesellschaftlichen Charakter Waren produzierender Arbeit, der in der Klassik verfehlt wird. A.Smith begründete Arbeit als Maß des Tauschwerts damit, daß der « wirkliche Preis jedes Dinges… die zu seiner Anschaffung erforderliche Mühe und Beschwerde » sei (Smith, 37, s.a. 40f). Arbeit erscheint hier als individueller, ungesellschaftlicher Prozeß zwischen Mensch und Natur, der aufgrund seiner Mühseligkeit den Wertcharakter der Waren konstituiert. Demgegenüber stellt Marx den « doppelten gesellschaftlichen Charakter » der Waren produzierenden Privatarbeiten heraus: Sie müssen sowohl ein bestimmtes gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen wie die Bedürfnisse ihrer Produzenten. Letzteres können sie aber nur, « sofern jede besondre nützliche Privatarbeit mit jeder andren nützlichen Art Privatarbeit austauschbar ist, ihr gleichgilt. Die Gleichheit toto coelo verschiedner Arbeiten kann nur in einer Abstraktion von ihrer wirklichen Ungleichheit bestehn, in der Reduktion auf den gemeinsamen Charakter, den sie als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, abstrakt menschliche Arbeit, besitzen. » (MEGA II.6, 104) Ist der erste Charakter (Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse) jeder arbeitsteiligen Produktion gemeinsam, so ist der zweite Charakter (gleiche Geltung als abstrakt menschliche Arbeit) ein Spezifikum der Warenproduktion und insofern liegt in ihm der spezifisch gesellschaftliche Charakter Waren produzierender Arbeit. In ihm ist ausgedrückt, daß in der bürgerlichen Gesellschaft individuell verausgabte Arbeit nicht unmittelbar gesellschaftlich ist, sondern diesen Charakter erst über den Tausch erhält: « Die Arbeit, die sich im Tauschwerth darstellt, ist vorausgesetzt als Arbeit des vereinzelten Einzelnen. Gesellschaftlich wird sie dadurch, daß sie die Form ihres unmittelbaren Gegentheils, die Form der abstrakten Allgemeinheit annimmt. » (MEGA II.2, 113) Indem die klassische wie auch die neoklassische Ökonomie über kein der aA analoges Konzept verfügen, damit auch den spezifisch gesellschaftlichen Charakter der Arbeit nicht erfassen können, bleibt ihre Betrachtung des ökonomischen Zusammenhangs auf die Perspektive des « vereinzelten Einzelnen » reduziert: die Rationalität individueller Kalküle soll erklären, was doch das Resultat von Strukturen ist, die dem individuellen Handeln vorausgesetzt sind.
Historizität der aA — AA, die man bei Abstraktion von jeder produktiven Bestimmtheit der Arbeit erhält, bezeichnet Marx auch als « Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand » (MEGA II.5, 24) und in der 2. Aufl. des Kapital ist von abstrakt menschlicher Arbeit als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft « im physiologischen Sinn » (MEGA II.6, 79) die Rede. Solche Formulierungen legen nahe, daß es sich bei aA um allgemeine, jeder Arbeitsverausgabung zukommende physiologische Eigenschaften handeln würde. An anderen Stellen macht Marx aber deutlich, daß es sich bei aA nicht um den Inbegriff natürlicher Eigenschaften, sondern um eine gesellschaftlich erzwungene Zuschreibung handelt. In Zur Kritik spricht er von der « objektive[n] Gleichung, die der Gesellschaftsproceß gewaltsam zwischen den ungleichen Arbeiten vollzieht » (MEGA II.2, 136f). Und bei der Überarbeitung der 1. Aufl. des Kapital notiert er: « Die Reduction der verschiednen konkreten Privatarbeiten auf dieses Abstractum gleicher menschlicher Arbeit vollzieht sich nur durch den Austausch, welcher Producte verchiedner Arbeiten thatsächlich einander gleichsetzt. » (MEGA II.6, 41) Abstraktheit der Arbeit meint nicht die allgemeinsten Bestimmungen der Arbeit, die das reflektierende Subjekt (ganz unabhängig von gesellschaftlichen Prozessen wie dem Tausch) beim Vergleich verschiedener Arbeiten feststellen kann, sondern die in der Gleichsetzung der Produkte im Tausch praktisch stattfindende Abstraktion von den besonderen Charakteren der verschiedenen Arbeiten, die diese Produkte hervorgebracht haben. Das Resultat dieser durch eine bestimmte gesellschaftliche Praxis erzwungenen Abstraktion ist nicht ein physiologisch Allgemeines, sondern eine spezifisch gesellschaftliche Formbestimmung von Arbeit.
Die Ambivalenz in der Bestimmung aA führte zur häufig diskutierten Frage, ob aA in allen Produktionsweisen existiert habe oder nur in der Warenproduktion: als Inbegriff physiologischer Eigenschaften wäre aA überhistorisch, als Ausdruck einer bestimmten durch den Austausch konstituierten Beziehung der Arbeiten aufeinander nicht. Im Kapital äußerte sich Marx zwar nicht explizit zum historischen Charakter der aA, doch ist bei der Analyse des Arbeitsprozeßes, der einzigen Stelle, wo dessen überhistorische Momente betrachtet werden, von aA nicht die Rede. In Zur Kritik hieß es allerdings eindeutig: « Als zweckmäßige Thätigkeit zur Aneignung des natürlichen in einer oder der anderen Form ist die Arbeit Naturbedingung der menschlichen Existenz… Tauschwerth setzende Arbeit ist dagegen eine specifisch gesellschaftliche Form der Arbeit. Schneiderarbeit… producirt den Rock, aber nicht den Tauschwerth des Rocks. Letztern producirt sie nicht als Schneiderarbeit, sondern als abstrakt allgemeine Arbeit und diese gehört einem Gesellschaftszusammenhang, den der Schneider nicht eingefädelt hat. » (MEGA II.2, 115)
AA als Wertsubstanz — Nicht Arbeit schlechthin, sondern aA wird von Marx als « Substanz » des Werts bestimmt; Wertgegenstand ist ein Gut insofern in ihm aA « vergegenständlicht » ist (MEGA II.6, 72). Daß es sich bei dieser Vergegenständlichung aA nicht darum handelt, daß ein quasi-materielles Substrat in das einzelne Produkt gelegt wird, das dann dessen Wertsein ausmacht, wird bereits durch die von Marx benutzte Metaphorik deutlich. Er nennt diese Gegenständlichkeit der aA « abstrakte Gegenständlichkeit, ein Gedankending » (MEGA II.5, 30), « gespenstige Gegenständlichkeit » (MEGA II.6, 72), « rein phantastische Gegenständlichkeit » (MEGA II.6, 32). Das Wertsein der Waren ist insofern eine phantastische Gegenständlichkeit, weil sich dieses Wertsein den Warenbesitzern gegenüber zwar als von ihnen unabhängige sachliche Eigenschaft von Dingen geltend macht, es aber überhaupt keine sachliche Grundlage in den Dingen selbst besitzt. Es handelt sich bei dieser Wertgegenständlichkeit um ein gesellschaftlich praktiziertes Geltungsverhältnis, eine gesellschaftlich gültige Zuschreibung, die allerdings nicht Resultat intensionalen Handelns ist, sondern Effekt einer bestimmten Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Wie Marx im Abschnitt über den Warenfetisch hervorhebt, reflektiert sich das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten als sachliche Eigenschaft von Dingen. Als Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses kann die Gegenständlichkeit der aA aber auch nur im gesellschaftlichen Verkehr erscheinen, was ihren « phantastischen » Charakter noch unterstreicht. Daß Wertgegenständlichkeit gerade nicht dem einzelnen Gut zukommt, wird von Marx nirgendwo so deutlich ausgesprochen wie im Überarbeitungsmanuskript der 1. Aufl. des Kapital. Dort schreibt Marx als Kommentar zur Darstellung der 1. Aufl.: Werden Rock und Leinwand als Werte auf Vergegenständlichung aA reduziert, dann wurde in dieser Reduktion « vergessen, daß keines für sich solche Werthgegenständlichkeit ist, sondern daß sie solches nur sind, soweit das ihnen gemeinsame Gegenständlichkeit ist. Ausserhalb ihrer Beziehung auf einander – der Beziehung worin sie gleichgelten – besitzen weder der Rock noch die Leinwand Werthgegenständlichkeit » (MEGA II.6, 30).
Die Größe des Werts will Marx durch das « Quantum der in ihm enthaltenen ‘werthbildenden Substanz’, der Arbeit » messen und die Arbeit findet ihr Maß an der Zeitdauer (MEGA II.5, 20). Allerdings ist nicht die von einem Produzenten individuell verausgabte Arbeitszeit wertbildend, sondern nur die « gesellschaftlich nothwendige Arbeitszeit », d.h. Arbeitszeit die unter den gesellschaftlich normalen Bedingungen durchschnittlich zur Produktion einer Ware benötigt wird (MEGA II.6, 73). Die so bestimmte « gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit » reduziert aber lediglich verschiedene individuelle Verausgabungen derselben konkreten Arbeitsart auf ein Durchschnittsmaß. Wird dies bereits als abschließendes Wort über das Maß der Wertgröße aufgefaßt, so hat man nicht nur konkrete Arbeit zum Maß aA gemacht, wodurch der Unterschied zwischen beiden eingeebnet wird. Es wird dann auch unterstellt, der Wert eines einzelnen Gutes könne unabhängig vom Austausch gemessen werden. Wenn Wertgegenständlichkeit den Waren aber nur gemeinsam zukommt, innerhalb des Austauschverhältnisses, so kann auch die Größe des Wertes nicht außerhalb dieses Verhältnisses bestimmt werden. Innerhalb des Austauschverhältnisses kann der Wert einer Ware aber nur adäquat ausgedrückt werden, wenn er auf Geld als selbständiges Dasein des Werts bezogen wird. In Zur Kritik wird dies bereits auf den ersten Seiten der Darstellung festgehalten, wenn Marx betont, daß sich im Wert die Arbeitszeit des Einzelnen als « allgemeine Arbeitszeit » ausdrückt und sich diese allgemeine Arbeitszeit in einem « allgemeinen Produkt, einem allgemeinen Aequivalent » (MEGA II.2, 111f) darstellen müsse. Im Kapital wird dieser Zusammenhang ausführlich in den Abschnitten über die Wertform und den Austauschprozeß begründet. Maß des Werts zu sein, ist die erste Formbestimmung des Geldes in der einfachen Zirkulation. Daß diese Maßfunktion des Geldes nicht durch eine Arbeitszeitrechnung (auch dann nicht, wenn sich diese auf « gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit » bezieht) außer Kraft gesetzt werden kann, wird insbesondere in Marx’ Auseinandersetzung mit den verschiedenen Arbeitsgeldtheorien deutlich (MEGA II.2, 155ff, MEGA II.5, 59).
Rezeption — Es ist bezeichnend für die oberflächliche Rezeption der Kritik der politischen Ökonomie vor dem 1. Weltkrieg, daß das Konzept aA keine besondere Rolle spielt. Nicht nur in den popularisierenden Darstellungen von Kautsky (1887) und Luxemburg (1925) taucht der Begriff nicht auf. Auch Hilferding (1904) bezog sich bei seiner Verteidigung der Marxschen Werttheorie gegen die Kritik von Böhm-Bawerk (1896) nicht auf aA und bei Lenin spielt der Begriff aA ebenfalls keine besondere Rolle. Die bis dahin ausführlichste Auseinandersetzung mit dem Konzept aA lieferte kein Marxist, sondern F.Petry (1916). Ausgehend von Rickerts Unterscheidung zwischen naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Methode glaubte er, auch bei Marx einen Dualismus von naturwissenschaftlich-kausaler Erklärung und einer « gesellschaftlichen » Betrachtungsweise feststellen zu können. Zwar kann diese Konstruktion dem Marxschen Werk insgesamt kaum gerecht werden, doch führte sie Petry, der den « kulturwissenschaftlichen Gehalt » der Marxschen Werttheorie darstellen wollte (Petry 1916, 3), zur Auseinandersetzung mit dem gesellschaftstheoretischen Charakter der Marxschen Begriffe. So hebt er etwa bei der aA hervor, daß es sich keineswegs um einen naturwissenschaftlichen Gattungsbegriff handelt, sondern um die gesellschaftliche Form der Privatarbeiten, wobei dann aber diese Gesellschaftlichkeit gleich auf die Betätigung des Menschen als Rechtssubjekt reduziert wird (ebd., 23f). Während Hilferding (1919) in einer längeren Rezension zwar die neukantianische Methodologie Petrys kritisierte, dessen Auseinandersetzung mit aA aber unbeachtet ließ, kam Rubin zu dem wohl zutreffenden Urteil, daß Petry eine Reihe von Fragen der Marxschen Theorie aufwarf, die von Marxisten nicht einmal behandelt wurden, die Petry selbst aber auch nicht lösen konnte (Rubin 1928, 365).
In den 20er Jahren wurde in der Sowjetunion eine intensive werttheoretische Debatte geführt, deren bedeutendstes Resultat wahrscheinlich die Arbeiten von Rubin waren. Rubin setzte sich ausführlich mit aA auseinander und differenzierte zwischen physiologisch gleicher Arbeit, gesellschaftlich gleichgesetzter Arbeit und abstrakt-allgemeiner Arbeit (Rubin 1924, 50ff, 100ff) und machte entgegen dem naturalistischen Verständnis von abstrakter Arbeit, das aus der « physiologischen » Auffassung dieser Kategorie entsprang, deutlich, daß es sich bei aA um eine « spezifisch historische Form der Gleichsetzung von Arbeit » handelt. AA mithin « nicht nur ein gesellschaftlicher, sondern auch ein historischer Begriff ist » (ebd., 95). Mit dem aufkommenden Stalinismus, dem auch Rubin schon frühzeitig zum Opfer fiel, wurden solche Diskussionen jedoch erstickt.
Mit der Vernachlässigung des Konzepts aA wurde die Marxsche Werttheorie vor allem als eine Erklärung der quantitativen Austauschverhältnisse und als Voraussetzung zur Begründung der Ausbeutung gelesen, während die gesellschaftstheoretischen Implikationen der Werttheorie meistens nur verkürzt wahrgenommen wurden. Dies trifft insbesondere für die durch Sweezy (1942), Meek (1956) und Dobb (1977) repräsentierte ältere angelsächsische Marx-Literatur zu. In Westdeutschland war die Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie zunächst stark durch die Kritische Theorie geprägt, die zwar deren philosophische und methodologische Implikationen herausstellte, sich aber nicht näher mit der Marxschen Analyse der Ware beschäftigte. Lediglich der Adorno-Schüler Krahl (1971) widmete ihr eine eigene Untersuchung, in welcher aA allerdings keine bedeutende Rolle spielte. Eine differenziertere werttheoretische Debatte, die im Rahmen der « Kapitallogik » auch die gesellschaftstheoretischen Implikationen des Konzepts aA berücksichtigte, setzte mit den Arbeiten von Backhaus (1969, 1974) und Reichelt (1970) ein. In industriesoziologischen Studien dagegen wurde aA zuweilen als sinnlich faßbare Kategorie, die die Mechanisierung und Sinnentleerung der Arbeitsvorgänge im Verlaufe der Automation ausdrückt, mißverstanden. Im angelsächsischen Raum führte u. a. die Übersetzung des Buches von Rubin zu einer Intensivierung der werttheoretischen Debatte und einer Auseinandersetzung mit dem Konzept aA (vergl. z. B. Itoh 1976 und die Beiträge in Elson 1979). Zugleich nahm aber auch die Kritik an der Marxschen Werttheorie zu. Unter Verwendung des von Sraffa (1960) entwickelten « neoricardianischen » Konzepts der Berechnung von Produktionspreisen aufgrund der mengenmäßigen Reproduktionsstruktur eines ökonomischen Systems wurde die Werttheorie für « redundant » erklärt, da Produktionspreise auch ohne vorherige Kenntnis der Wertgrößen bestimmt werden könnten (Steedman 1977). Die Berechnung von Werten war im Rahmen neoricardianischer Modelle aber nur deshalb möglich, weil einerseits ein stationäres Reproduktionsgleichgewicht vorausgesetzt und wertbildende aA umstandslos mit einer bereits vor dem Tausch feststehenden Menge zur Produktion notwendiger homogener Arbeit identifiziert wurde. Gegen die neoricardianische Formulierung der Marxschen Werttheorie wurde daher eingewandt, daß gerade die mit dem Konzept aA anvisierte Problematik des spezifisch gesellschaftlichen Charakters Waren produzierender Arbeit verfehlt wird (DeVroey 1982, Ganßmann 1983). Eine erneute werttheoretische Diskussion setzte in der Bundesrepublik Ende der 80er Jahre ein. Brentel (1988) stellte die Arbeitswertheorie als Theorie der Konstitution einer – von Marx entdeckten – spezifischen ökonomisch-sozialen Gegenständlichkeit dar. Da diese Werttheorie nur als Kapitaltheorie explizierbar sei (ebd., 265f), versteht Brentel aA als « antizipatorische[n] Totalitätsbegriff » der Vergesellschaftung der Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen (ebd., 124). Während Brentel die Marxsche Entdeckung rekonstruieren und gegen Fehlinterpretationen verteidigen will, Probleme also nicht auf Seiten von Marx, sondern der Interpreten sieht, stellt Heinrich (1991) gerade auf die internen Probleme der Marxschen Theorie ab: einerseits handle es sich bei Marx um eine wissenschaftliche Revolution, die mit dem theoretischen Feld der klassischen politischen Ökonomie breche, andrerseits bleibe Marx selbst diesem Feld weitgehend verhaftet, so daß die Überlagerung beider Diskurse zu vielfältigen Ambivalenzen führe. So würden sich im Begriff aA nicht miteinander vereinbare Konzepte überkreuzen: eine « gesellschaftliche » Auffassung (aA als Resultat einer gesellschaftlich erzwungene Gleichsetzung von qualitativ Verschiedenem) wird von einer « naturalistischen » (aA als Inbegriff physiologischer Bestimmungen) überlagert. Vor allem unter erkenntniskritischen Gesichtspunkten wird die werttheoretische Debatte in den bei Behrens (1993) versammelten Aufsätzen weitergeführt.
Bibliographie: H.-G.Backhaus, Zur Dialektik der Wertform, in: A.Schmidt (Hg.), Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt/M 1969, S.128-152; ders. Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 1, Frankfurt/M 194, S.52-77; D.Behrens (Hg.), Gesellschaft und Erkenntnis. Zur materialistischen Erkenntnis- und Ökonomiekritik, Freiburg 1993; E.v.Böhm-Bawerk, Zum Abschluß des Marxschen Systems (1896), in: F.Eberle (Hg.), Aspekte der Marxschen Theorie 1, Frankfurt/M 1973, S.25-129; H.Brentel, Soziale Form und ökonomisches Objekt. Studien zum Gegenstands- und Methodenverständnis der Kritik der politischen Ökonomie, Opladen 1989; M.DeVroey, On the Obsolescence of the Marxian Theory of Value: A Critical Review, in: Capital & Class no.17, 1982, S.34-59; M.Dobb, Wert- und Verteilungstheorien seit Adam Smith, Frankfurt/M 1977; D.Elson, (ed.), Value. The Representation of Labour in Capitalism, London 1979; H.Ganßmann, Marx ohne Arbeitswerttheorie?, in: Leviathan, Jg. 11, 1983, Nr. 3, S.394-412; G.W.F.Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), in: ders., Werke, Bd. 7, Frankfurt/M 1970; ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), in: ders., Werke Bd. 8-10, Frankfurt/M 1970; M.Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, Hamburg 1991; R.Hilferding, Böhm-Bawerks Marx-Kritik (1904), in: F.Eberle (Hg.), Aspekte der Marxschen Theorie 1, Frankfurt/M 1973, S.130-192; ders., Rezension von Petry, Der soziale Gehalt der Marxschen Werttheorie, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 8.Jg, Leipzig 1919, S.439-448; M.Itoh, A Study of Marx’s Theory of Value, in: Science & Society, vol. 40, 1976, no.3; K.Kautsky, Karl Marx Oekonomische Lehren. Gemeinverständlich dargestellt und erläutert, Stuttgart 1887; H.-J.Krahl, Zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse, in: ders., Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt/M 1971, S.31-81; R.Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie (1925), in: dies., Gesammelte Werke Bd.5, Berlin 1975; R.L.Meek, Studies in the Labour Theory of Value, London 1956; F.Petry, Der soziale Gehalt der Marxschen Werttheorie, Jena 1916; H.Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx, Frankfurt/M 1970; I.I.Rubin, Studien zur Marxschen Werttheorie (1924), Frankfurt/M 1973; ders., Zwei Schriften über die Marxsche Werttheorie, in: Marx-Engels Archiv Bd.I, 1928, S.360-369; A.Smith, Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes (1776), Jena 1923; P.Sraffa, Warenproduktion mittels Waren. Einleitung zu einer Kritik der ökonomischen Theorie (1960), Frankfurt/M 1976; I.Steedman, Marx after Sraffa, London 1977; P.M.Sweezy, Theorie der kapitalistischen Entwicklung (1942), Frankfurt/M 1970.